(12.02.2012) Frankfurter Allgemeine Zeitung, faz.net: Hohle, leere Extremismustheorie

Im Mai 2004, anlässlich Gaus’ Tod, druckte der Freitag den Text noch einmal ab. Bis heute ist mir der Zweiklang “Ich bin kein Demokrat mehr, aber ich stehe fest auf dem Boden der FdGO” im Gedächtnis geblieben. Gaus erklärt im Folgenden, was er damit meint

Als vor mehr als 30 Jahren, um das Jahr 68 herum, aufmüpfige westdeutsche Studenten und Taxifahrer wie Joschka Fischer viel demonstrierten und die Sicherheitsorgane der BRD viele Demonstranten fotografierten, um Belege für Überprüfungen wegen etwaiger Berufsverbote zu sammeln; ach, was wir schon alles getan und vergessen haben – zu jener Sturm- und Drangzeit der Bundesrepublik war es gängiger Hohn unter aufgeweckten jungen Leuten, im Studentenheim oder in einer Kneipe nach hitzigen Debatten für gemutmaßte Mikrofone des Verfassungsschutzes zu beteuern: “Und außerdem stehe ich fest auf dem Boden der FdGO.”

Das klingt lustig, erinnert aber auch an die Diskussion um Bundesministerin Kristina Schröders Extremismusklausel. Von Initiativen, die sich gegen Rechtsextremismus – besser: gegen Nazis – einsetzen und dafür Geld von der Bundesregierung erhalten möchten, wird seit kurzem gefordert, dass sie ein schriftliches Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung (FdGO) und zum Grundgesetz abgeben. Dazu kommt: die Initiativen müssen ausschließen, “extremistische Strukturen” zu unterstützen.

Totalitarismustheorie, Extremismustheorie

Einige Konservative werden nicht müde, die von der Totalitarismustheorie abgeleitete Extremismustheorie zu bemühen – was sie damit über ein “Meine Ideologie ist besser als deine” hinaus sagen möchten, bleibt im Dunkeln. Politisch-inhaltlich ist das nicht, eine genaue Benennung politischer Einstellungen sähe anders aus. Im Grunde genau das selbe wie das “fest auf dem Boden der FdGO stehen”. Nichtssagend, unpolitisch, ideologisch.

Zudem werden hunderte Opfer von Nazigewalt durch Relativierung verhöhnt. Und nicht zuletzt ist die Extremismustheorie schädlich für das Engagement gegen Nazis. Denn: diejenigen, die sich vor Ort gegen Nazis einsetzen, werden pauschal als “Extremisten” gebrandmarkt. Lokale Anti-Nazi-Strukturen sind in den Augen von Kristina Schröder offensichtlich pauschal “extremistische Strukturen”. Und das hat Folgen.

In Limbach-Oberfrohna, einem kleinen Ort zwischen Chemnitz und Zwickau, läuft es nicht so gut mit der demokratischen Kultur. Limbach-Oberfrohna hat ein Naziproblem. Auch die NPD trifft sich hier gerne. Jürgen Gansel, Landtagsabgeordner der NPD, sagte am Rande eines solchen Treffens dem MDR, man fühle sich in Limbach-Oberfrohna “aufgehoben”. Und “Wir haben auch den Eindruck, dass wir mit unseren politischen Botschaften hier Gehör finden”.

Etikett “linksextrem” aufgedrückt

Spätestens als in der Nacht zum 13.11.2010 ein linkes Jugendzentrum angezündet wurde, sollte das Naziproblem Limbach-Oberfrohnas deutlich geworden sein. Doch die Extremismustheorie wirkt. Harald Lamprecht von Landeskirche Sachsen sagte dem MDR: “Es gibt eine Gruppe, die sich gegen Nazis engagiert – die bekommen das Etikett ‘linksextrem’ aufgedrückt”

Die Jugendlichen und ihre Eltern beklagen, dass die Stadt das Problem nicht ernstnehme. Der neu geschaffene “Präventionsbeauftragte” Dietrich Oberschelp relativiert in dem MDR-Beitrag den politischen Hintergrund der Taten: “Begrifflichkeiten wie ‘rechtsextreme Gewalt’ helfen nicht. Auch den betroffenen Bürgern nicht. Denen hilft es, wenn man aktiv dagegen vorgeht”. Die lokale Presse spricht nicht von einem Naziproblem, sondern von einem “Bandenkrieg”, von “Chaoten”.

Extremismus-Ideologie anstatt inhaltliche Klarheit: “Die Stadtverwaltung steht sehr hinter dem Extremismusbegriff,” erzählen Jugendliche am Rande eines Musikabends in Limbach-Oberfrohna. Den Raum schmückt ein lila Banner mit der Aufschrift “Nazis wegbassen”. Unter dem Fachwerkdach hängt eine Discokugel. Jugendliche in Röhrenjeans, mit schwarzen Kapuzenpullovern.

Perspektivlosigkeit, Prügeleien

Auch Daniel Drescher ist an dem Abend dabei. Einer von wenigen, der sich mit seinem vollen Namen zitieren lassen will. Von vor Ort sind vielleicht 25 oder 30 da, die meisten anderen sind von woanders – aus Zwickau, Chemnitz, Freiberg. Einige wohnten früher mal in Limbach-Oberfrohna. Eine, die nach Bayern gezogen ist, erzählt, wie sich ihre kleine Schwester, die noch in Limbach-Oberfrohna wohnt, “aufregt”. “Alles ist von Rechts dominant”. Man merke es in der Disco, diese Perspektivlosigkeit. Und ständig gebe es Prügeleien.

Daniel Drescher wohnt noch in Limbach-Oberfrohna und will auch nicht von hier wegziehen. Der Zwanzigjährige wurde früher oft verprügelt, etwa alle drei Wochen, sagt er. Heute passt er gut auf, wenn er draußen herumläuft. Generell sei es besser, als nicht-rechtsextremer Jugendlicher in Limbach-Oberfrohna nicht alleine zu sein, “in der Gruppe, am besten mit dem Auto” – und bestimmte Orte zu meiden. Zum Beispiel Tankstellen. “Da gibt es Alkohol” sagt Drescher. Mehr und mehr seien allerdings nicht die “fetten Glatzennazis” das Problem. “Die haben sich zur Ruhe gesetzt”, so Drescher. “Mehr Sprühereien, andere Gewalt” – die Nazis agierten inzwischen gezielter, “statt besoffenem Kontrollverlust”. Anstatt der Skinheads, die die Nazi-Szene früher dominierten, gebe es immer mehr “Freie Kräfte”, “Autonome Nationalisten”.

*Verfassungsschutz: “Keine
rechtsterroristischen Strukturen”*

Auch der Verfassungsschutz hat dies bemerkt. Im Verfassungsschutzbericht 2010 (PDF) ist zu lesen, dass man “aufgrund des Wandels innerhalb der rechtsextremistischen Szene die Zahl der gewaltbereiten Rechtsextremisten 2010 erstmals gesondert” ausweise. Weiterhin ist in dem Bericht zu lesen, dass in Teilen der Szene darüber hinaus gefordert werde, die eigenen Aufmärsche auch mit Gewalt durchzusetzen. Der Verfassungsschutz schreibt, dass der Anstieg der Gewaltbereitschaft bei Neonazis auf die Blockaden ihrer Aufmärsche zurückzuführen sei.

Hervorgerufen wird diese Entwicklung durch eine zunehmende Frustration der Szeneangehörigen aufgrund von Blockaden rechtsextremistischer Demonstrationen und der von der Szene häufig als erschwert betrachteten Verfahren der Versammlungsbehörden.

Damit könnte es sich der Verfassungsschutz etwas zu leicht machen. Genau wie auch mit der Bemerkung:

Auch 2010 waren in Deutschland keine rechtsterroristischen Strukturen feststellbar.

Inzwischen wurden diese Strukturen ja entdeckt. Neonazis konnten in Deutschland jahrelang morden, ohne dass der Verfassungsschutz etwas davon merkte.

Nazi-Problem auch in Berlin

Auch in Berlin gibt es ein Neonazi-Problem, auch in Berlin gibt es “Listen”, nämlich auf Internetseiten, vom “Nationalen Widerstand Berlin”. Zum Beispiel “Chronik Berlin” – Untertitel “Wir nennen die Täter beim Namen”. In der Tag-Cloud, rechts auf der Seite, finden sich Namen von Politikern, Aktivisten und Journalisten, die als Nazigegner aufgefallen sind. Und auch auf der Rechercheseite von nw-berlin.net finden sich Namen und dazugehörige Adressen. Daten sammelt die Neonazi-Gruppe unter anderem bei Gerichtsverfahren. Auch Briefkästen wurden schon aufgebrochen und Gehaltsbescheinigungen entwendet. Ein Pressefotograf fand sich, nachdem er auf einer Nazi-Veranstaltung seinen Presseausweis sichtbar bei sich trug und andauernd fotografiert wurde, alsbald auch in dieser Liste wieder.

Der Nationale Widerstand Berlin ist eine Gruppe mit “klassischer Nazistruktur”, wie Ulli Jentsch von Apabiz e.V. analysiert hat. Man sehe sich als “Anti-Antifa gegen alle Volksfeinde” – Nicht-Deutsche, Behinderte, Linke. Die Gruppe stehe in klarer SA-Tradition, sie sehe sich als “Sturmabteilung für die Partei”.

Gegen die Seiten, auf denen sich die Adressen linker Läden und persönliche Daten von Aktivisten und Journalisten finden, wird nicht viel getan. Seit 2008 erstatte man immer wieder Anzeige, klagen Betroffene – doch dann werde darauf verwiesen, dass die Server in den USA stünden. Und die Anzeige eingestellt. Dabei seien die Akteure doch in Deutschland.

Bianca Klose: “Es wird bald ein Unglück geben”

Die Seiten seien “Ausdruck einer professionalisierten Antii-Antifa-Arbeit”, sagt Bianca Klose von der mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus in Berlin. Doch der Staat habe kein Ermittungsinteresse. “Die Ermittlungsbehörden lassen Bedrohte schutzlos zurück”, sagt Klose, “Diese Angriffe treffen die Mitte der Gesellschaft, der Staat muss alle Mittel ausschöpfen, um diese Menschen zu schützen. Ansonsten wird es bald ein Unglück geben.”

Gleichzeitig kritisiert auch Klose die Extremismustheorie als schädlich und “wissenschaftlich zweifelhaft”. Die derzeitige Extremismusdebatte befördere “die völlig falsche Wahrnehmung, es handele sich bei den Angriffen um Rivalitäten zweier Gruppen, die am Rande der Gesellschaft kämpfen” – dadurch werden die Menschen, die sich gegen Nazis engagieren, als die gleiche, am anderen Rand zu verortende vermeintliche Extremismusgruppe kriminalisiert.

Wie in Limbach-Oberfrohna wird auch in Berlin das Naziproblem zu einem “Extremistenproblem” gemacht. Da prügeln sich welche an den Rändern der Gesellschaft und eine wie auch immer geartete “Mitte” geht es nichts an. Der Journalist Patrick Gensing von publikative.org hat sich der Extremismustheorie genähert und kommt zu dem Ergebnis

Der Extremismus-Begriff wurde ohne klar identifizierbare Begründung eingeführt; er ist in der Wissenschaft äußerst umstritten, hat aber aus staatlicher Sicht seine Berechtigung. Der Begriff gibt keine Hinweise über die Inhalte der dahinterstehenden Ideologien, dies soll durch Erweiterungen wie Rechts-, Links- oder Ausländerextremismus geleistet werden. Die Idee, der Rechtsextremismus sei ein Phänomen eines politischen “Rands”, würdigt nicht die komplexen Ursachen des Rechtsextremismus.

Im Großen und Ganzen erweitert die Extremismustheorie den Diskurs um die These, Kapitalismuskritik wäre “extremistisch” und stellt damit Linksradikale mit Nazis auf eine Stufe. Dabei ist es nicht verboten, sich für Enteignung oder Vergesellschaftung einzusetzen, dies ist in Artikel 15 und 16 des Grundgesetzes nachzulesen. Auch sollten Befürworter der inhaltlich entleerten Theorie zur Kenntnis nehmen, dass die Bundesrepublik Deutschland “ein sozialer und demokratischer Bundesstaat” ist (Artikel 20) – von “kapitalistisch” ist in diesem Artikel hingegen nicht die Rede.

Zu vermuten ist, dass die Extremismustheorie ihren Anhängern in erster Linie zur Befriedigung einer antikommunistischen Sichtweise dient. Fatal wird dies, wenn diese Ideologie Staatspolitik wird wie bei Kristina Schröder und ihrer “Extremismusklausel”. Schröder macht auch Meinung mit Broschüren wie dieser: “Demokratie stärken – Linksextremismus verhindern” – Extremismustheorie pur, inklusive ihrer wichtigen Vertreter Eckard Jesse, Professor in Chemnitz, und Carmen Everts (SPD).

Andi-Comics “gegen Extremismus, für Demokratie”

Die Broschüre erinnert an die “Andi”-Comics, die das Innenministerium des Landes NRW unter der Führung von Ingo Wolf (FDP) herausgegeben hat. In Band 3 (“Gegen Extremismus, für Demokratie”), der übrigens von Kristina Schröders Ministerium, vom niedersächsischen Innenministerium und auch im inzwischen rot-grün regierten NRW nun nachgedruckt wurde, wird “Antifaschismus” folgendermaßen definiert

Was hat es denn zu bedeuten, wenn Linksextremisten sich als “Antifaschisten” bezeichnen? Linksextremisten verstehen sich nicht einfach als Gegenpol zu den Rechtsextremisten. Mit dem Begriff “Antifaschismus” verfolgen sie weitergehende Ziele. Im Zentrum ihrer Ideologie steht die Bekämpfung des Staates und des Kapitalismus, in dem sie die eigentliche Ursache oder Wurzel des Faschismus sehen. In diesem Sinne beteiligen sie sich oft an Demonstrationen gegen Rechtsextremisten oder veranstalten diese selbst: nicht, um die bestehende demokratische Ordnung zu stärken, sondern um zu beweisen, dass ihre Ideen besser als die jetzige Staats- und Wirtschaftsform sind.

Das Engagement gegen Neonazis wird hier ganz klar als vorgeschoben diskreditiert. Nazis und Linke werden gleichgesetzt.

Abgeschoben ins Chaotische, Unverständliche. Der “rot lackierte Faschist”. Auch für den Chef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Bernhard Witthaut, sind diejenigen, die in Dresden die Nazis blockieren, offensichtlich nicht besser als die Nazis. Nach den Blockaden im letzten Jahr zog der GdP-Chef Vergleiche mit den Zuständen der Weimarer Zeit: “Blutige Straßenschlachten zwischen linken und rechten Extremisten haben Deutschland schon einmal heimgesucht. Das Ergebnis hat die Welt in ein Chaos gestürzt”, so Witthaut im Februar 2011 in einem Kommentar auf der Webseite der Gewerkschaft.

Vielleicht müssen nicht nur Kristina Schröder und Eckard Jesse, sondern auch Polizei und Verfassungsschutz an ihrem Extremismusproblem arbeiten. Nun, im Jahr 2012, nach der Entdeckung der NSU-Morde müssen sich auch Polizei und Verfassungsschutz fragen lassen, ob sie bei Neonazis wirklich genau genug hingesehen haben. Und ob es vielleicht an der Extremismustheorie liegt, wenn sie das mal nicht so genau taten.

Von Julia Seelinger

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